«Liebe Kitty!
Als ich heute Morgen nichts zu tun hatte, blätterte ich mal in meinem Tagebuch und stiess mehrmals auf Briefe, die das Thema «Mutter» in so heftigen Worten behandelten, dass ich darüber erschrak und mich fragte: «Anne, bist du das, die über Hass gesprochen hat?
O Anne, wie konntest du das?»
Ich blieb mit dem offenen Buch in der Hand sitzen und dachte darüber nach, wie es kam, dass ich so randvoll mit Wut und wirklich so voller Hass war, dass ich dir das alles anvertrauen musste. Ich habe versucht, die Anne von vor einem Jahr zu verstehen und zu entschuldigen, denn mein Gewissen ist nicht rein, solange ich dich mit diesen Beschuldigungen sitzen lasse, ohne dir nun hinterher zu erklären, wie ich so wurde. Ich litt (und leide) an Stimmungen, die mich (bildlich) mit dem Kopf unter Wasser hielten und mich die Dinge nur subjektiv sehen liessen. Ich habe nicht versucht, ruhig über die Worte der Gegenpartei nachzudenken und bei meinen Handlungen an den zu denken, den ich mit meinem aufbrausenden Temperament beleidigt oder traurig gemacht habe.
Ich habe mich in mir versteckt, nur mich selbst betrachtet und alle meine Freude, meinen Spott und meine Traurigkeit ungestört in mein Tagebuch geschrieben. Dieses Tagebuch hat für mich bereits einen Wert, weil es oft ein Memoirenbuch geworden ist. Aber über viele Seiten könnte ich schon das Wort «Vorbei» setzen.
Ich war wütend auf Mutter (bin es noch oft). Sie verstand mich nicht, das ist wahr, aber ich verstand sie auch nicht. Da sie mich liebte, war sie zärtlich. Aber sie ist durch mich auch in viele unangenehme Situationen gebracht worden und wurde dadurch und durch viele andere traurige Umstände nervös und gereizt. Es ist gut zu verstehen, dass sie mich anschnauzte.
Ich nahm das viel zu ernst, war beleidigt, frech und unangenehm zu ihr, was sie ihrerseits wieder bekümmerte. Es war also eigentlich ein Hin und Her von Unannehmlichkeiten und Verdruss. Angenehm war es für uns beide sicher nicht, aber es geht vorbei. Dass ich dies nicht einsehen wollte und viel Mitleid mit mir selbst hatte, ist ebenfalls verständlich.
Diese zu heftigen Sätze sind lauter Äusserungen von Wut, die ich im normalen Leben mit ein paar mal Aufstampfen in meinem Zimmer, hinter verschlossener Tür, oder mit Schimpfen hinter Mutters Rücken ausgelebt hätte. Die Zeit, in der ich Mutter unter Tränen verurteilt habe, ist vorbei. Ich bin klüger geworden, und Mutters Nerven haben sich etwas beruhigt. Ich halte meistens den Mund, wenn ich mich ärgere, und sie tut das auch.»