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Als Otto Frank das Tagebuch seiner verstorbenen Tochter verschiedenen Verlagen anbietet, erhält er zunächst ablehnende Bescheide: Man glaubt nicht, dass der Text ein breites Publikum interessieren könnte. Was für ein Irrtum! Das Tagebuch wurde bis heute in über 70 Sprachen übersetzt. Es ist einer der bedeutsamsten Zeitzeugen-Berichte und gilt heute auch als literarischer Klassiker des 20. Jahrhunderts.

Otto Franks Überarbeitung


Als im August 1945 das Rote Kreuz den Tod von Anne und Margot Frank bestätigt, übergibt Miep Gies Otto Frank das Tagebuch seiner Tochter. Die Lektüre nimmt ihn stark mit. Nach einer Bedenkzeit, in welcher er sich mit Familienmitgliedern und Bekannten berät, entschliesst er sich, das Tagebuch zu veröffentlichen. Im Herbst 1945 beginnt Otto mit der Abschrift von Annes Tagebüchern. Er geht von Annes überarbeiteter Version aus und ergänzt sie an verschiedenen Stellen mit der ersten Version. Dabei nimmt er auch einige Eingriffe am Text vor, lässt besonders kritische Kommentare von Anne über ihre Mutter Edith Frank oder intime Passagen des jungen Mädchens weg. Gestrichen hat er auch verletzende Einträge über die anderen Untergetauchten. Von Anne übernimmt er die vorgeschlagenen Pseudonyme für die Bewohnerinnen und Bewohner des Hinterhauses und für die Helfenden. Den Mitgliedern der Familie Frank lässt er ihre richtigen Namen.

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Tagebuchdoppelseite vom 8.7.1942. © Anne Frank Fonds Basel

Unter den Fotos steht:

die Geschichte wird ernster,

aber ein Lächeln ist noch übrig von dem witzigen Teil

oh was für ein Witz.

was wird jetzt kommen?

guten Tag. «Ja mir geht es gut!» (lachende Höflichkeit)

die Geschichte ist schön

auch lieb.

© Anne Frank Fonds Basel

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Tagebuchdoppelseite vom 28.9.1942. © Anne Frank Fonds Basel

Neben dem Foto auf der linken Seite steht:

Ich fange mit dem Foto von Margot an und höre mit meinem eigenen auf. Das ist auch im Januar 1942. Dieses Foto ist scheusslich, und ich bin mir absolut nicht ähnlich.
 

Oben an dem Briefumschlag auf der rechten Seite steht:

Am 11. Mai habe ich diesen goldigen Brief von Papi bekommen, er soll mir eine Stütze für mein Leben sein, wenigstens wenn ich ihn nicht wie Margot irgendwo liegen lasse, wie Margot ihn jetzt zu Hause hat. AnneFrank 28. Sept. 1942.

© Anne Frank Fonds Basel

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Tagebuchdoppelseite vom 16.10.1942. © Anne Frank Fonds Basel

Anmerkung zu den Fotos auf der linken Seite:

und so in einen Spiegel

so schaue ich in einen Kinderwagen

Dies ist doch goldig gell. Anne.

Hier habe ich sicher den Harlekin betrachtet.

Anne

18. Oktober 1942. Sonntag
 

Anmerkung zu dem Foto auf der rechten Seite:

Das ist ein Foto, wie ich mir wünschen würde, immer so zu sein. Dann hätte ich wohl noch eine Chance nach Holywood zu kommen. Aber zur Zeit sehe ich leider meistens anders aus.

Anne Frank. 18. Okt. 1942

Sonntag.

© Anne Frank Fonds Basel

Otto Frank zieht den niederländischer Rundfunk-Dramaturgen Albert Cauvern bei. Dieser korrigiert das Typoskript und regt sprachliche und inhaltliche Veränderungen an.
 

Diese von Otto Frank und Albert Cauvern bearbeitete Version des Tagebuchs wird heute als Version C bezeichnet und bildet die Grundlage aller bis 1991 im Buchhandel erhältlichen Tagebuchausgaben.

Erste Veröffentlichung


Otto Frank verschickt den Tagebuchtext an gute Freunde und Bekannte. Die niederländische Historikerin und Schriftstellerin Annie Romein ist nach der Lektüre tief beeindruckt. Sie gibt das Buch ihrem Mann, Jan Romein – ebenfalls Historiker –, worauf er unter dem Titel «Kinderstem» einen Bericht darüber für die Zeitung «Het Parool» verfasst. Der Artikel weckt das Interesse des Leiters von Uitgeverij Contact, einem Verlag mit Sitz in Amsterdam.


Der Verlag unterzieht Annes Text einem Korrektorat, passt ihn den internen Vorgaben an und nimmt einige sprachliche Anpassungen vor. Zusätzlich zu den eigenen Auslassungen akzeptiert Otto Frank auf Wunsch des Verlegers die Streichung von insgesamt 26 weiteren Passagen.


Am 25. Juni 1947 erscheint das Tagebuch der Anne Frank erstmals auf Niederländisch unter dem Titel «Het Achterhuis. Dagboekbrieven van 12 juni 1942 – 1 augustus 1944» in einer Erstauflage von 3000 Stück.

Miriam Pressler über Otto Franks Editionsarbeit. © Anne Frank Fonds/AVE

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Erstausgabe von «Het Achterhuis» von 1947. © Anne Frank Fonds Basel

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Erstausgabe von «Het Achterhuis» von 1947. © Anne Frank Fonds Basel

Annes Tagebuch verkauft sich gut: Von 1947 bis 1950 erscheinen insgesamt sechs Auflagen. Auf Wunsch von Otto Frank bringt der Contact-Verlag 1949 auch den kleinen Band «Weet je nog? Verhalen en sprookjes» mit acht Geschichten von Anne Frank heraus, illustriert vom Zeichner Kees Kelfkens.

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Erstausgabe von «Weet je nog?» von 1949. © Anne Frank Fonds Basel

Übersetzungen


Inzwischen beauftragt Otto Frank die Journalistin Annelies Schütz mit der deutschen Übersetzung des Tagebuchs. Sie verwendet dabei nicht «Het Achterhuis», sondern die von Otto Frank und Albert Cauvern bearbeitete Version C. Die erste deutsche Übersetzung unterscheidet sich deshalb an einigen Stellen von «Het Achterhuis».
 

Annelies Schütz ist keine professionelle Übersetzerin. Es gelingt ihr nicht, den jugendlichen Schwung von Annes Sprache ins Deutsche zu übertragen. Zudem versucht sie, den Text inhaltlich einer deutschen Leserschaft anzupassen: Sie ändert oder streicht Stellen, in denen sich Anne abfällig über Deutschland und die Deutschen äussert, um die Leserschaft nicht vor den Kopf zu stossen. Und gleichzeitig stellt sie den Text so um, dass die deutsche Herkunft der Familie Frank für die Leserschaft nicht evident wird.
 

1950 bringt der Heidelberger Verlag Lambert Schneider den Text in einer Auflage von 4500 Exemplaren heraus. Fünf Jahre später erscheint eine Taschenbuchausgabe der Fischer-Bücherei. Das vormals eindeutig politische Vorwort wird mit einer neutral gehaltenen Einführung ersetzt, in welcher die Judenverfolgung unerwähnt bleibt.

1950 erscheint das Tagebuch auch in einer französischen Übersetzung von Tylia Caren und Suzanne Lombard unter dem Titel «Le Journal d’Anne Frank» im Verlag Calman-Lévy. Der US-amerikanische Journalist Meyer Levin, der nach Kriegsende als Korrespondent in Europa tätig ist und über die Gräuel in den ehemaligen Konzentrationslagern berichtete, liest Anne Franks Tagebuch, setzt sich mit Otto Frank in Verbindung und unterstützt diesen tatkräftig bei der Suche nach einem Verlag im englischsprachigen Raum. Das Vorhaben gelingt.
 

1952 erscheint «The Diary of a Young Girl» in den Verlagen Doubleday (USA) und Vallentine, Mitchell & Co. Ltd. (Grossbritannien). Das Vorwort schreibt Eleanor Roosevelt, die ehemalige First Lady der Vereinigten Staaten. Das Buch wird zum Besteller, unter anderem wegen Meyer Levins gut platzierten Rezensionen. In kürzester Zeit werden drei Auflagen gedruckt.

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Auswahl von Tagebuchausgaben aus der ganzen Welt. © Anne Frank Fonds Basel

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Auswahl von Tagebuchausgaben aus der ganzen Welt. © Anne Frank Fonds Basel

Anne Franks Tagebuch geht um die Welt


Zwischen 1955 und 1957 erscheinen weltweit insgesamt 15 Ausgaben von Anne Franks Tagebuch in den Niederlanden, Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, USA, Kanada, Norwegen, Dänemark, Schweden, Japan, Israel, Italien, Ungarn, Finnland und Spanien. Das Tagebuch der Anne Frank gehört damit zu den ersten Büchern, die den Holocaust über Literatur ins öffentliche Bewusstsein tragen.
 

Bis heute ist das Tagebuch in über 70 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft worden. Millionen von jungen Menschen haben seit Erscheinen Anne Franks Tagebuch in den Schulen gelesen und im Unterricht behandelt.

Otto Frank und das Tagebuch, Amsterdam.

Kritische Edition und die Neubearbeitung


Die zahlreichen veränderten, gekürzten, übersetzten Versionen sorgen immer wieder für Verwirrung und Missverständnisse. Das Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie (Niederländisches Staatliches Institut für Kriegsdokumentation) entschliesst sich deshalb Anfang der 1980er Jahre, eine vollständige Edition der Tagebücher zu veröffentlichen. 1986 erscheint die erste kritische und kommentierte Ausgabe der Tagebücher der Anne Frank auf Niederländisch. Zwei Jahre später kommt beim Frankfurter Fischer-Verlag die textkritische Ausgabe auch in einer deutschen Übersetzung von Mirjam Pressler heraus. 1991 erstellt Mirjam Pressler im Auftrag des Anne Frank Fonds Basel schliesslich die weltweit verbindliche Lesebuchausgabe «Anne Frank Tagebuch» – die Version D. Diese erscheint seither weltweit in neuen Übersetzungen aus dem holländischen Original.

Unter der Verantwortung der Holocaustforschungsstelle Fritz Bauer Institut in Frankfurt wird Ende 2020 die erste wissenschaftliche-kritische Edition der Tagebücher von Anne Frank in verschiedenen Sprachen erscheinen. Ein internationales Forschungsteam verschiedener Universitäten hat aufgrund einer neuen Transkription eine wissenschaftliche Bearbeitung der Tagebücher vorgenommen und zum Teil neu übersetzt.

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Schematische Übersicht der verschiedenen Versionen von Annes Tagebüchern.